Die hohle Weide.

Der Morgenthau verstreut im Thale
 Sein blitzendes Geschmeide;
 Da richtet sich im ersten Strahle
 Empor am Bach die Weide.
Im Nachtthau ließ sie niederhangen
 Jhr grünendes Gefieder,
 Und hebt mit Hoffnung und Verlangen
 Es nun im Frühroth wieder.
Die Weide hat seit alten Tagen
 So manchem Sturm getrutzet,
 Ist immer wieder ausgeschlagen,
 So oft man sie gestutzet.
Es hat sich in getrennte Glieder
 Ihr hohler Stamm zerklüftet,
 Und jedes Stämmchen hat sich wieder
 Mit eigner Bork' umrüstet.
Sie weichen auseinander immer,
 Und wer sie sieht, der schwöret,
 Es haben diese Stämme nimmer
 Zu einem Stamm gehöret.
Doch wie die Lüfte drüber rauschen,
 So neigen mit Geflüster
 Die Zweig' einander zu, und tauschen
 Noch Grüße wie Geschwister;
Und wölben über'm hohlen Kerne
 Wohl gegen Sturmes Wirthen
 Ein Obdach, unter welchem gerne
 Des Liedes Tauben brüten.
Soll ich, o Weide, dich beklagen,
 Daß du den Kern vermissest,
 Da jeden Frühling auszuschlagen
 Du dennoch nie vergissest?
Du gleichest meinem Vaterlande,
 Dem tief in sich gespaltnen,
 Von einem tiefern Lebensbande
 Zusammen doch gehaltnen.