Napoleons Sonnenwende.

An dem Tag der Sonnenwende,
 Wo die Sonn' am höchsten steht,
 Und von dannen ihrem Ende
 Rasch entgegen niedergeht:
Trat, nicht achtend auf das Zeichen,
 Das am Himmel vor im stand,
 Mit dem Heer aus hundert Reichen
 Jener an des Niemens Rand.
Franzenkaiser Bonaparte,
 Hat dir nicht der Geist gesagt,
 Welches Schicksal deiner warte,
 Wenn du diesen Schritt gewagt?
An des Ruhmes letztem Rande
 Bist du eben angelangt;
 Drüben wohnt für dich die Schande,
 Wenn dein Stolz danach verlangt.
Krösus in den alten Zeiten,
 Als er das Orakel frug,
 Ob er übern Halys schreiten
 Sollte mit des Heeres Zug;
Hat ihn das Geschick betrogen,
 Mit zweideut'gem Göttermund,
 Sprechend: Jenseit Halys Wogen
 Richtest du die Macht zu Grund.
Und als er's in's Werk gerichtet,
 Ward er es zu spät gewahr
 Daß er eine Macht vernichtet,
 Doch daß es die seine war.
Wohnt ein Gott denn auch im Norden,
 Der mit dunklem Doppelsinn,
 Bonapart', an Niemens Borden
 Hat berücket deinen Sinn?
Um den Hochmuth zu bethören,
 Braucht es Göttersprüche nicht;
 Wollet ihr den Stolzen hören,
 Wie er selbst sein Schicksal spricht?
Zu den ungezählten Schaaren,
 Die, gehoffter Beute froh,
 Um ihn her versammelt waren,
 Sprach der Franzenkaiser so:
Krieger, hier seid ihr berufen
 Zu der großen Laufbahn Schluß;
 Denn es muß von seinen Stufen
 Steigen Rußlands Genius.
Und umrauscht vom Waffenschalle
 Seines Heeres, hört er nicht,
 Wie ihm wird vom Widerhalle
 Nachgesprochen, was er spricht:
Ja es muß von seinen Stufen
 Steigen Rußlands Genius;
 Und ihr alle, her berufen,
 Seid es, die er schlachten muß.
Aber als mit Roß und Wagen
 Nun der ungeheure Zug
 Ueber'n Riemen war getragen,
 Der die Last mit Seufzen trug;
Richtet' er aus seinen Wogen
 Langsam sich mit Schütteln auf;
 Und derweil sie vorwärts zogen,
 Ueberzählt' er ihren Lauf.
Und nachdem er ausgezählet,
 Sprach mit dumpfem Rauschen er:
 Hat mir nicht die Kraft gefehlet
 Um zu tragen solch ein Heer?
Sollt' ich doch auf meinem Rücken
 Tragen es zum zweiten Mal,
 Würde rettungslos zerdrücken
 Mich die ungeheure Zahl.
Solchen Schaden zu verhindern,
 Bitt ich dich, o Russenschwert,
 Diese Ueberzahl zu mindern,
 Bis sie hieher wiederkehrt.
Also sprach der Strom mit Tücke;
 Damals sah, von Ahnung schwer,
 Manches Aug auf ihn zurücke,
 Das ihn lebend sah nicht mehr;
Manches Ohr auch laut und leiser
 Hörte, was sein Rauschen sprach:
 Nur der taube Franzenkaiser
 Jagte seinem Sturze nach.
Und er sah den Fluß nicht wieder,
 Als bis er, von Moskows Brand,
 Bettlerlumpen um die Glieder,
 Trat allein an seinen Rand;
Da, als er in schlechtem Nachen
 Ueberfuhr mit Scham und Hast,
 Hört' er wohl den Flußgott lachen,
 Weil ihm ward so leicht die Last.

Anmerkungen

Krösus

Er war der letzte König des in Kleinasien gelegenen Lydiens. Er regierte von etwa 555 v. Chr. bis 541 v. Chr. und war vor allem für seinen Wohlstand und seine Freigiebigkeit bekannt.

siehe auch Wikipedia <http://de.wikipedia.org/wiki/Kr%C3%B6sus>`_

Halys

Fluß mit Bezug zum Orakelspruch: „Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.“